Laudation, 150 Jahre Wickrather MGV, 08. Oktober 2011

Verehrte Festversammlung!

Seit 150 Jahren besteht der MGV Wickrath, 150 Jahre Pflege von Gesang, Geselligkeit, Tradition, 150 Jahre, in denen der MGV Höhen und Tiefen erlebt hat, nicht nur in seinem Vereinsleben, sondern eng damit verbunden auch im Verlaufe der allgemeinen geschichtlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Diese ziehen sich wie ein roter Faden durch das Vereinsleben, dessen Historie geradezu ein Spiegelbild dieser allgemeinen Entwicklungen ist und die deshalb davon nicht los gelöst betrachtet werden kann.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in deutschen Landen sehr viele Männergesangvereine gegründet. Dafür gab es im Wesentlichen zwei Gründe. Das Scheitern der Märzrevolution 1848 und der Nationalversammlung in der Paulskirche hatten das wachsende Nationalgefühl und das Streben nach staatlicher Einheit, das Streben nach persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit nicht verhindern können. Im Bürgertum wuchs das Selbstbewusstsein, es empfand sich zunehmend als Träger der neuen Ideen von natürlicher Gleichheit und Freiheit der Menschen. Wegen der Restauration ließen sich diese Ideen nicht in politischen Vereinigungen umsetzen und so kam es in den folgenden Jahren, sozusagen ersatzweise neben den Gründungen von Turnvereinen auch zur massenhaften Gründung von Männergesangvereinen. Sie bildeten einen Eckpfeiler der bürgerlichen Freiheitsbewegung.

 

Andererseits prägten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Verbindung mit der seinerzeit zunehmenden patriotischen Gesinnung mehr und mehr die volkstümlichen Werte, prägte die Freude am geselligen Kreis das gesellschaftliche Leben. Damit einhergehend traten als die musikalische Neuerung in jener Zeit zunehmend die vierstimmigen Männerchöre an die Stelle des gemeinsam von Männer-, Frauen- und Knabenstimmen getragenen Gesangs.

Besonders zwei Männer beeinflussten die weitere Geschichte der Männerchöre maßgeblich. Der Maurermeister und spätere Dirigent und Direktor der Berliner Sing-Akademie Carl-Friedrich Zelter gründete 1809 die erste „Liedertafel", die später Beispiel für viele Neugründungen von Männerchören wurde. Zum anderen ist Friedrich Silcher zu nennen, der als der Protagonist des Chorgesangs gilt. Er gründete 1829 die Akademische Liedertafel in Tübingen.

Die Liedertafeln waren reine Männergesellschaften, die - ich zitiere - „in monatlichen Treffen bei einem frugalen Mahle in deutscher Fröhlichkeit und Gemütlichkeit edle Geselligkeit pflegten und Lieder sangen".  

Ihre Mitglieder, unterschiedlich in Beruf und gesellschaftlicher Stellung, einte die ideale Gesinnung und die große Liebe zum Gesang. Nach den genannten Vorbildern folgten dann viele Neugründungen von Männergesangvereinen. In diese Neugründungen reihte sich im November 1861 auch der Wickrather MGV ein.

Die Geschichte dieses Chores ist von Beginn seiner Gründung an bis in die neuere Zeit in den originalen handschriftlichen Protokollen dokumentiert. Eine mühsame, aber spannende, manchmal auch erheiternde Lektüre, an Hand derer sich das Vereinsgeschehen und seine Einbindung in den Wandel der Gesellschaft nachvollziehen lässt. Die Chronik liegt, - leichter lesbar als die Originale der Aufzeichnungen - im vorliegenden Festbuch vor.

Ich will mich deshalb darauf beschränken, das Wesen des Vereins, seinen Charakter, seine Leistungen, seine Beständigkeit zu beleuchten.

Mit der Beschlussfassung über die Statuten wurde am 10. Nov. 1861 der Wickrather Männergesangverein gegründet, unterschrieben von 36 honorigen Bürgern Wickraths, unterschiedlich in gesellschaftlicher Stellung und Beruf, unter ihnen auch Levi und Zacharias Spier. Im Verlaufe seines 150-jährigen Bestehens durchlebte der Verein Höhen und Tiefen, verursacht durch innere und äußere Entwicklungen. Es bedurfte im Zeitenlauf immer mal wieder neuer Impulse, das Vereinschiff wieder flott zu machen. Der 1. Weltkrieg unterbrach die Vereinstätigkeit, aber schon 1919 konnten mit einer Sondergenehmigung der französischen Ortskommandantur die Gesangsübungen wieder aufgenommen und im gleichen Jahre schon wieder ein erstes Konzert gegeben werden. Nach 1933 lavierte man sich geschickt durch die Forderungen des NS-Regimes, musste aber 1940 aus kriegsbedingten Gründen, - die meisten Sänger standen im Felde - die Proben einstellen. Im März 1946 konnte dann wieder eine Generalversammlung einberufen, ein neuer Vorstand gewählt, konnten die Proben wieder aufgenommen und bereits im Juni 1946 schon wieder ein erstes Konzert veranstaltet werden. Trotz widriger Umstände unmittelbar nach Kriegsende knüpfte der MGV, - hoch motiviert - an die Ziele und Gepflogenheiten seines vormaligen Vereinslebens an, seinem eigentlichen Anliegen, der Pflege des Chorgesangs und des Volksliedes zu dienen.

So kann man heute, nach anderthalb Jahrhunderten seines Bestehens feststellen, dass der Chor dieses Anliegen, diese Verpflichtung intensiv und äußerst erfolgreich verfolgt und erfüllt hat.

Die Stiftungsfeste sowie jährlich zwei Konzerte ermöglichten dem Chor, sein Können einer stattlichen Öffentlichkeit mit viel Erfolg und großer Anerkennung vorzuführen. Zahlreiche Konzerte mit benachbarten, mit befreundeten Gesangvereinen, die Teilnahme an Sängerfesten und Wettbewerben verlangten ein reiches Repertoire sehr anspruchsvoller Lieder. Zu erwähnen sind auch die vielen öffentlichen Auftritte bei unterschiedlichen Anlässen in den heimatlichen Gefilden Wickraths, für den Chor immer wieder eine gesellschaftliche Verpflichtung.

Carl Maria von Weber schrieb einst: „Es ist die erste und heiligste Pflicht des Gesanges, mit der möglichsten Treue wahr in der Deklamation zu sein". Und der Jubelchor begeisterte immer wieder mit der Wahrheit seiner Liedvorträge! Dafür wurde ihm im Jahr 2005 verdientermaßen die Zuccalmaglio-Medaille im Volksliederleistungssingen verliehen. In diesem Jahr, dem Jubiläumsjahr, wurde der MGV dann zu Recht und verdientermaßen mit der Zelter-Plakette des Bundespräsidenten für Verdienste um Chorgesang und Volkslied ausgezeichnet.

Eine wirklich ehrenvolle Auszeichnung, zu der hier nochmals herzlich gratuliert werden soll!!!

In den Gründungsstatuten waren neben den vereinsübliche Regularien auch Regelungen nach den Grundprinzipien der Liedertafeln aufgenommen worden: An die wöchentlichen Gesangsübungen sollte sich mindestens einmal im Monat eine gesellige Unterhaltung anschließen, zu der von den Mitgliedern, auch den passiven, eine aktive Mitgestaltung erwartet wurde. In einer späteren Revision der Statuten wurde festgelegt, dass es einmal vierteljährlich eine außergewöhnliche festliche Unterhaltung mit theatralischen Einlagen und einem gemeinsamen Essen geben sollte. Auch bei den Stiftungsfesten und den Konzerten spielt die Geselligkeit eine große Rolle. Sie sollten stets ausgerichtet werden mit anschließendem Essen und Ballvergnügen. Die „frugalen" Essen der Liedertafeln allerdings waren damals, so weit überliefert, nach heutigen Maßstäben eher schlicht. So wird z. B. einmal berichtet, dass es bei einem solchen Essen auf Beschluss der Generalversammlung „Hämmchen mit Sauerkraut" geben sollte. Damit war jedoch ein Mitglied nicht einverstanden und verlangte Erbsensuppe. Sein Begehren wurde abgelehnt. Nach dem Protokoll hat er sich dann mit einer 1 Pf schweren Mettwurst mit Brötchen begnügt.

In den Protokollen taucht erstmals schon 1902 als außergewöhnliche Veranstaltung ein Fastnachtsfest auf, als gemütlicher Familienabend, mit Büttenreden, flotten Liedern, flotten Tänzchen angekündigt. Im Jahresbericht von 1929 vermerkt der Chronist: „Von nun an übernahm Prinz Karneval die Regie, schwang auf unserer Damensitzung mächtig sein Zepter." 1938 wird über einen Bunten Abend mit Familienball zu Karneval berichtet und darüber, dass der Verein sich mit einem Wagen am Karnevalsumzug des damaligen Wickrather Karnevalsvereins „Ver dösche op!" beteiligt habe. In den 70-iger Jahren des vorigen Jahrhunderts haben dann junge Sangesenthusiasten gewissermaßen die Tradition wieder aufgenommen. Fortan fanden wieder jährlich Karnevalssitzungen des Wickrather MGV statt, mit riesigem Erfolg, sie sind nahezu auch zu einem Markenzeichen des MGV geworden,

einem Markenzeichen für Beständigkeit und kreative Geselligkeit!

Zum Thema Geselligkeit, Pflege von Kameradschaftsgeist und Gemeinschaftsgefühl gehören seit den frühen Jahren der Gründung auch die, wie es in den Protokollen heißt, „Spaziergänge" und „Wanderungen" in die nähere Umgebung. Von Besuchen bei benachbarten Gesangsvereinen wird berichtet.

Später wurden daraus Fahrten, heute sind es Reisen in die Ferne - nicht ohne sich jeweils durch einige stimmungsvolle Liedvorträge am fernen Orte auszuweisen. Eine schöne Tradition!.

Im Weiteren möchte ich noch auf eine andere wertvolle Eigenschaft des MGV hinweisen. Im Bewusstsein seiner gesellschaftlichen/sozialen Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwesen Wickrath und seinen Menschen führte der Verein schon in den frühen Jahren seiner Existenz Wohltätigkeitsveranstaltungen durch und spendete die Erlöse für soziale Zwecke, senkte in der Notzeit Ende der 20-iger Jahre für Erwerbslose die Mitgliedsbeiträge. In den Kriegszeiten halfen die daheim Gebliebenen den Familien, deren Männer und Söhne Soldat waren, bei der Gartenarbeit. Nach dem Kriege richtete der Chor z.B. für die Ostflüchtlinge eine Weihnachtsfeier aus. Er bereicherte vor allem manches Fest der anderen Ortsvereine, der Kirchen und manches außergewöhnliche Familienfest mit schönen Lied vorträgen. Besonders zu erwähnen sind seine gehaltvollen Darbietungen von zu Herzen gehenden Volkslieder im Altenheim, sehr zur Erbauung der alten Menschen. Wie sagte Fr. Schiller: „Es schwinden allen Kummers Falten, solang des Liedes Zauber walten".

Der MGV, ein treuer Begleiter in Freud und Leid!

Verehrte Festversammlung,

ich hoffe Sie stimmen zu, wenn ich feststelle, dass der MGV in seiner 150-jährigen Geschichte Beständigkeit in Leistung, in Charakter und Tradition, Beständigkeit in der Wahrnehmung kultureller und gesellschaftlicher Verpflichtungen in einer sich wandelnden Welt gezeigt hat.

Dafür unser aller herzlichste Gratulation, unser aller ergebenste Hochachtung und Anerkennung, verbunden mit den besten Wünschen für die weitere Zukunft im Lichte der heutigen Herausforderungen an zeitgemäßem Chorgesang.

„Vivat, crescat, floriat, Der MGV Wickrath, er lebe hoch, er möge wachsen und blühen!

 

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann

Bundesminster a. D.